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Artikel von © Brigitte Roth, FAZ vom 02.11.02

Fürs Leben rennen
Vor dem New York Marathon: Warum Langstreckenläufe immer beliebter werden

FRANKFURT, 1. November. Mit dem Song von Leonard Cohen "First we take Manhattan ..." hat es am Sonntag eine besondere Bewandtnis. Tausende würden sich wünschen, sie wären schon dort. Doch für den New York City Marathon gilt nun mal: Last we take Manhattan - und manchmal nicht einmal das. Denn zwischen dem Start von Staten Island auf der Verrazano Bridge und dem Ziel im Central Park von Manhattan liegen 42,195 kraftzehrende Kilometer voller Überraschungen. Schritt für Schritt lauern Muskelkrämpfe,  Seitenstechen, , Knieschmerzen oder andere Bösartigkeiten, die zum Aussteigen zwingen könnten. Und trotzdem nehmen immer mehr Menschen jede Strapaze auf sich, unterwerfen sich rigiden Trainingsplänen, bei denen sie nicht selten ein Wochenpensum von 60 bis 80 Kilometern absolvieren. Selbst der Urlaub gehört dem Hobby: Spezialagenturen bieten Marathonreisen in die ganzen Welt an, von Honolulu über Südafrika bis nach Stockholm, London oder eben New York.

Laufen kann süchtig machen. Der Kölner Immunologe Gerhard Uhlenbruck, von dem gesagt wird, er gehöre zum Laufen wie der Schuh, und der es in seinem Leben auf 36 Marathons brachte, sagt: "Auf einmal war ich drauf, hing wie an der Nadel." Der 1929 geborene Wissenschaftler ließ sich 1970 erstmals auf das 42-Kilometer-Aben-teuer durch den Kölner Stadtwald ein. Damals standen bestenfalls Angehörige im Ziel, oder man schickte einen Freund an eine bestimmte Stelle, um Getränke zu reichen: "Ansonsten haben uns nur ein paar Vögel verständnislos zugeguckt." Marathonläufen war eine einsame Sache. Der Boom setzte erst in den siebziger Jahren mit den Rennen durch die Straßen der Städte ein. "Die Atmosphäre ist doch eine völlig andere, wenn nicht nur Bäume da stehen, sondern Tausende Menschen einem applaudieren." Breitensportler Reinhard Bardtke, der 1989 in New York dabei war, schwärmt noch heute vom Enthusiasmus des amerikanischen Publikums. Viele Zuschauer wollten abgeklatscht werden, riefen "give me a touch". Nicht recht erklären konnte sich Bardtke zunächst, warum sich um ihn herum immer wieder Menschentrauben bildeten. Er war doch schließlich nicht berühmt. Dann fiel ihm ein, daß auf seinem Trikot der Name seines Sportvereins stand: MTV Kronberg. Viele dachten deshalb, er sei vom Fernsehsender MTV.

Neugier, sportlicher Ehrgeiz, Abenteuerlust und der Reiz von Grenzerfahrungen treiben inzwischen die Massen in Funktionskleidung über den Asphalt. Ständig kommen neue Stadtmarathons dazu, in diesem Herbst hatte Münster seine Premiere. Jährlich melden die Veranstalter neue Teilnehmerrekorde. Aus dem ersten Lauf in Berlin 1981 mit 3500 Teilnehmern sind inzwischen mehr als 40 000 geworden. Hamburg hat für 2003 ein Limit von 18 000 Läufern eingeführt. Am vergangenen Sonntag gingen in Frankfurt gut 10 000 Läufer auf die Strecke. Anfang Oktober bekamen die Veranstalter in Köln die 17 500 Läufer so schlecht in den Griff, daß viele im hinteren Feld 40 Minuten im Regen stehen mußten, bis sie endlich losdurften - von Anfang an klatschnaß.

New York ist der spektakulärste Straßenlauf. Doch ohne sich einem Reiseanbieter anzuschließen, der über ein Kontingent an Plätzen verfügt, ist es schwierig, an eine der begehrten 33 000 Startnummern zu kommen. Wie begierig ganz normale Bürger nach so einer Berechtigung sind, haben Wissenschaftsredaktionen des Südwestrundfunks Baden-Baden (SWR) und des Norddeutschen Rundfunks (NDR) kürzlich erfahren. Sie wollen beweisen, daß jeder gesunde Mensch es innerhalb eines Jahres "von Null auf 42" bringen kann. Kaum war publik, daß am Ende der Vorbereitungszeit "New York" stehe, meldeten sich 20000 Leute. Sechs werden ausgewählt. Der medizinische und trainingswissenschaftliche Betreuer des Projekts, Thomas Wessinghage, attestiert der Strecke eine "unschlagbare Dramaturgie". Die Manhattan-Skyline, Ziel und Sinnbild der kapitalistischen Gesellschaft, habe man immer wieder von allen zu durchlaufenden Stadtteilen aus im Blick. Nähere man sich endlich dem Central Park, sei man zwar bald am Ziel, aber im ansteigenden Parkgelände wird es noch einmal schwer. Der ehemalige 5000-Meter-Europameister und heutige Ärztliche Leiter der Rehabilitationsklinik Damp und des Deutschen Zentrums für Präventivmedizin Damp, wird am Sonntag selbst zum dritten Mal dabei sei - mit Digitalkamera, um daraus ein Buch zu machen.

Für die Begeisterung gibt es viele Erklärungen. Zu ein paar Außenseitern seien Leitfiguren gekommen, sagt Wessinghage. Etwa Außenminister Fischer: 1998, eine Woche nach seinem fünfzigsten Geburtstag, passierte er bei seinem ersten Marathon in Hamburg nach drei Stunden und 41 Minuten die Ziellinie. Ein Marathon hat "Event"-Charakter. Wer persönliche Erfolge anderswo nicht findet, der suche sie im Ausdauersport, sagt Gerhard Uhlenbruck.

"Da wird aus der Langeweile der Wohlstandsge- sellschaft herausgelaufen." Wessinghage nennt es das Streben nach "dem großen Wir-Gefühl" und vergleicht einen Marathon mit der Love-Parade. "Man läuft miteinander gegen die selbe Strecke." Am Ende eine Medaille umgehängt zu bekommen, bedeutet Selbstbestätigung und Prestige. Selbst in Bewerbungen um eine neue Arbeitsstelle werde das sportliche Hobby vermerkt: "Manche schreiben sogar ihre Bestzeiten rein." Und was soll das dem Arbeitgeber sagen? Daß der Bewerber zielstrebig ist und nicht so schnell aufgibt? Die Angabe der Lieblingsbeschäftigung könnte auch die Vermutung aufkommen lassen, der Bewerber vernachlässige berufliche Pflichten. Für eine gute körperliche Verfassung spricht die Angabe auf jeden Fall. Das Training ist gesundheitsfördernd. Der Wettbewerb selbst habe hingegen keine positiven Auswirkungen auf den Organismus. "Man kann nicht alles verlangen: ein Super-Erlebnis, Hochgefühle, und außerdem muß es noch gesund sein."

Um die Tortur schadlos zu überstehen sind ein gründlicher sportmedizinischer Check, Kontrollunter- suchungen, ein Training mehrmals wöchentlich und eine kritische Selbsteinschätzung unerläßlich. Werden Einschränkungen gefunden, ist es trotzdem fast unmöglich, einen Läufer vom Start abzuhalten. Der lange Lauf zu sich selbst, den viele unternehmen, ist kaum mehr aufzuhalten: Zur Auswahl stehen inzwischen Ultramarathons mit 100 Kilometern Länge und mehr. Oder ein Wüstenmarathon, der etwa 240 Kilometer durch die Sahara führt - je nachdem, wie oft man sich verläuft.

© Brigitte Roth, FAZ 02.11.02 

 

 

New York Marathon

 


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