Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.05.2002
Artikel von © Friedrich Bohnenkamp

Busemanns Leiden
Der Körper des Zehnkämpfers ist seinem Talent nicht gewachsen

(Fotos: NDR.de / Sport1.de / BBC.co.uk)

DORTMUND. Er ist Westfale. Das erklärt nicht alles, vielleicht aber einiges. Der Westfale als solcher gilt als stur, und somit mag es die Gnade der Geburtsregion sein, die Frank Busemann das Recht gibt zu sagen: „Aufgeben gilt nicht. Ich muß weitermachen, weil - man kann doch seine Bestleistung nicht mit 21 Jahren abliefern." Wenn er das sagt, dann sieht der 27jährige Sportler trotzig aus. Und auch traurig. Vor allem das mit der Traurigkeit ist nachvollziehbar, tut er doch etwas leidenschaftlich gerne, was er nicht tun sollte: Zehnkämpfe bestreiten. Denn sein Körper mag nun mal keine Leibesübungen solcher Intensität. Wegen angeborener Schwächen wie Gleitwirbeln, Plattfüßen, einem Beckenschiefstand. Zum Beispiel. Sein Körper dokumentiert seinen Widerwillen gegen den Hochleistungssport  zudem  regelmäßig durch vielfältigste Verletzungen, die in den letzten zweieinhalb Jahren fünf Operationen, Hunderte von Stunden bei Ärzten und Kranken- gymnasten nötig machten. Seit Jahren schluckt er gegen die Schmerzen vor den Wettkämpfen Tabletten, und es gab Dutzende von Situationen, von Rückschlägen, als Beobachter glaubten, nun müsse es ihm eigentlich reichen mit den Schmerzen, den physischen und den psychischen.

Doch Herrn Busemanns Gespür für Schmerz, es ist ein ungewöhnliches. So hat er im Februar den 16 Jahre alten Siebenkampf-Hallenrekord des Siggi Wentz verbessert - mit einem Leistenbruch, der anschließend schnell operiert werden mußte. Die Beule in der Leistengegend hat ihn in Tallinn zwar irritiert, Risiko und Schmerz schienen ihm aber angemessen für dieses "unheimlich schöne Gefühl, daß endlich mal wieder alles klappte". Einmal hat er sich aber richtig verzockt beim Poker zwischen Willen und Körper. In Ratingen rissen im zurückliegenden Jahr beim Speerwurf Bänder, Kapsel, Muskeln - alles, was den Ellenbogen zusammen- hält. Geschrieen hat er, umgefallen ist er (und lief doch 20 Minuten später die 1500 Meter), und er hat eine zweite Schmerzgrenze überschritten: Aus dem Trainer und Vater Franz-Josef Busemann wurde an diesem Tag „Extrainer", nach mehr als zwanzigjähriger Zusammenarbeit. „Er konnte mich nicht mehr leiden sehen", sagt der Junior. Er mochte nicht mehr daran denken, was noch alles passieren müsse, damit Frank Schluß mache mit dem Zehnkampf, sagt der Senior, und man sieht, daß er Angst hat. Angst, weil der Filius immer verbissener wird, je mehr ihm der Körper zusetzt und je älter er wird. Man muß Frank Busemann nicht verstehen, aber man kann es ja mal versuchen.

Also stellst du dir vor, du liegst in deinem Kinder- bett, hast gerade eine Bestleistung über 50 Meter aufgestellt, und du träumst. Und zwar richtig. Nicht von der Recklinghausener Stadtmeisterschaft der B-Schüler, du träumst von Olympia. Das Stadion ist voll, die Hitze flimmert, niemand hat dich auf der Rechnung; außer dir selbst. Und dann rennst du, und du rennst so schnell wie noch nie, und du springst so weit wie noch nie, und es ist alles so rauschhaft, und die Leute jubeln, schreien. Und du bist leicht und stark zugleich. Irgendwann schlägst du die Hände vor das Gesicht, weil es kein Traum ist, sondern der Abend des 1. August 1996 in Atlanta, und du bist Silbermedaillengewinner im Zehnkampf. Du, der Banklehrling im zweiten Lehrjahr, der 21jährige nette Junge von nebenan. Diese Geschichte ist eine ebenso schöne wie seltene, und schön selten ist es, wenn ein begnadeter Sportler den Sport betreibt, weil er ihn ganz anachronistisch liebt.

Nein, Frank Busemann hat durchaus nichts dagegen gehabt, eine Zeitlang gut zu verdienen, und auch die Rolle als „Liebling Deutschlands" hat er im Jahr eins nach Atlanta charmant ausgefüllt. Aber er hat sich dabei immer nach Bankdrücken, Steigerungen, 1500-Meter-Läufen gesehnt, nach den kleineren und größeren Momenten, in denen er eine Zufriedenheit erlebt, die er sonst nicht erfährt. Das muss man verstehen, um zu begreifen, warum er weitermacht. Und man muß wissen: Höflichkeit, Sensibilität und ein freundliches Wesen schließen extremen, fast schon krankhaften Ehrgeiz durchaus nicht aus.

Nach seinen Plänen und Zielen müßte Busemann jetzt eigentlich Olympiasieger und Weltrekordhalter mit 9000 Punkten plus x sein. Dafür hat er gelebt, dem hat er alles untergeordnet seit 1996, mit diesen Zielen hat er sich selbst unter Druck gesetzt und blockiert. In Sydney ist er Siebter geworden; immerhin, nach einer Verletzung in der Vorbereitung. Den Weltrekord hat ihm Roman Sebrie vorweggenommen, vor einem Jahr in Götzis. Busemann hatte eine Urkunde über seinen dritten Platz bei den Westdeutschen Meisterschaften im Stabhochsprung im Auto liegen, als er von seinem geplatzten Lebenstraum hörte. Verletzungen, Panik wegen ebendieser Verletzungen - man hat ihm all dies selten angemerkt, wenn er denn mal einen Mehrkampf bestreiten durfte. Irgendwie hat er immer „einen rausgehauen", wie er das nennt, und alle haben gestaunt: er, die Konkurrenz, die Öffentlichkeit. Allerdings standen unter dem Strich bedeutend weniger Punkte als früher; mit der absoluten Weltspitze konnte er immer weniger mithalten.

Auch 2002 muß er wieder um jeden Zehnkampf mit seinem Körper feilschen. Am kommenden Wochenende wird er nicht nach Götzis, dem Mehrkampf-Mekka, pilgern. Ratingen, der Versuch eines Gegenentwurfs, ist 14 Tage später terminiert. Zwei Wochen, die er braucht, um möglichst gut zu sein und sich für die Europameisterschaften in München zu qualifizieren. Ra­tingen wird seinen 14. Zehnkampf und eine Premiere erleben. Frank Busemann wird den Speer mit rechts werfen, auf ebender Anlage, wo er sich vor Jahresfrist durch den unsinnigen zweiten Versuch einen Totalschaden im Wurfarm zuzog. Mit der hübschen Wortschöpfung „irroperabel" überspielt er die Tatsache, daß es damit für ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine internationalen Medaillen und Meriten mehr geben wird. Denn eher gewinnt ein Rechtshänder einen Schönschreib- wettbewerb mit links, als daß er, der totale Linkshänder, wettbewerbsfähige Weiten mit rechts erzielt. Sein Hausrekord liegt bei über 66 Metern, im Training liegt der Rekord bei 37 Metern.

Zur EM nach München will er aber auf jeden Fall. Wird er auch. Sagt er und strahlt dabei eine Überzeugungs- kraft aus, daß man keinen Zweifel daran hat. Er wird dabeisein. Am liebsten als Mehrkämpfer; wenn das nicht klappt, dann eben als Weitspringer. Nach dem Wurf von Ratingen stemmte er ganz für sich tonnenweise Eisen, im stillen Folterkämmerlein. Er beendete die Saison 2001 als zweitbester deutscher Springer. Westfalen sind auch flexibel. Aber nur, wenn es wirklich nicht anders geht.

© Friedrich Bohnenkamp

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