DORTMUND.
Er ist Westfale. Das erklärt nicht
alles, vielleicht aber einiges. Der Westfale als solcher gilt als
stur, und somit mag es die Gnade der Geburtsregion sein, die Frank
Busemann das Recht gibt zu sagen: „Aufgeben gilt nicht. Ich muß
weitermachen, weil - man kann doch seine Bestleistung nicht mit 21
Jahren abliefern." Wenn er das sagt, dann sieht der 27jährige
Sportler trotzig aus. Und auch traurig. Vor allem das mit der
Traurigkeit ist nachvollziehbar, tut er doch etwas leidenschaftlich
gerne, was er nicht tun sollte: Zehnkämpfe bestreiten. Denn sein Körper
mag nun mal keine Leibesübungen solcher Intensität. Wegen
angeborener Schwächen wie Gleitwirbeln, Plattfüßen, einem
Beckenschiefstand. Zum Beispiel. Sein Körper dokumentiert seinen
Widerwillen gegen den Hochleistungssport
zudem regelmäßig
durch vielfältigste Verletzungen, die in den letzten zweieinhalb
Jahren fünf Operationen, Hunderte von Stunden bei Ärzten und Kranken-
gymnasten nötig machten. Seit Jahren schluckt er gegen die Schmerzen
vor den Wettkämpfen Tabletten, und es gab Dutzende von Situationen,
von Rückschlägen, als Beobachter glaubten, nun müsse es ihm
eigentlich reichen mit den Schmerzen, den physischen und den
psychischen.
Doch
Herrn Busemanns Gespür für Schmerz,
es ist ein ungewöhnliches. So hat er im Februar den 16 Jahre alten
Siebenkampf-Hallenrekord des Siggi Wentz
verbessert - mit einem Leistenbruch, der
anschließend schnell operiert werden mußte. Die Beule in der
Leistengegend hat ihn in Tallinn zwar irritiert, Risiko und Schmerz
schienen ihm aber angemessen für dieses "unheimlich schöne Gefühl,
daß endlich mal wieder alles klappte". Einmal
hat er sich aber richtig verzockt beim Poker zwischen Willen und Körper.
In Ratingen rissen im zurückliegenden Jahr beim Speerwurf
Bänder, Kapsel, Muskeln - alles, was den Ellenbogen
zusammen- hält. Geschrieen hat er, umgefallen ist er (und lief doch
20 Minuten später die 1500 Meter), und er hat eine zweite
Schmerzgrenze überschritten: Aus dem Trainer und Vater Franz-Josef
Busemann wurde an diesem Tag „Extrainer", nach
mehr als zwanzigjähriger
Zusammenarbeit. „Er konnte mich nicht mehr leiden sehen", sagt
der Junior. Er mochte nicht mehr daran denken, was noch alles
passieren müsse, damit Frank Schluß mache mit dem Zehnkampf, sagt
der Senior, und man sieht, daß er Angst hat. Angst, weil der Filius
immer verbissener wird, je mehr ihm der Körper zusetzt und je älter
er wird. Man muß Frank Busemann nicht verstehen, aber man kann es ja
mal versuchen.
Also
stellst du dir vor, du liegst in deinem Kinder- bett, hast gerade eine
Bestleistung über 50 Meter aufgestellt, und du träumst. Und zwar
richtig. Nicht von der Recklinghausener Stadtmeisterschaft der B-Schüler,
du träumst von Olympia. Das Stadion ist voll, die Hitze flimmert,
niemand hat dich auf der Rechnung; außer dir selbst. Und dann rennst
du, und du rennst so schnell wie
noch nie, und du springst so weit wie noch nie, und es ist alles so
rauschhaft, und die Leute jubeln, schreien. Und du bist leicht und
stark zugleich. Irgendwann schlägst du die Hände vor das Gesicht,
weil es kein Traum ist, sondern der Abend des 1. August 1996 in Atlanta,
und du bist Silbermedaillengewinner im Zehnkampf. Du,
der Banklehrling im zweiten Lehrjahr, der 21jährige nette Junge von
nebenan. Diese Geschichte ist eine ebenso schöne wie seltene, und schön
selten ist es, wenn ein begnadeter Sportler den Sport betreibt, weil
er ihn ganz anachronistisch liebt.
Nein,
Frank Busemann hat durchaus nichts dagegen gehabt, eine Zeitlang gut
zu verdienen, und auch die Rolle als „Liebling Deutschlands"
hat er im Jahr eins nach Atlanta charmant ausgefüllt. Aber er hat
sich dabei immer nach Bankdrücken, Steigerungen, 1500-Meter-Läufen
gesehnt, nach den kleineren und größeren Momenten, in denen er eine
Zufriedenheit erlebt, die er sonst nicht erfährt. Das muss man
verstehen, um zu begreifen, warum er weitermacht. Und man muß wissen:
Höflichkeit, Sensibilität und ein freundliches Wesen schließen
extremen, fast schon krankhaften Ehrgeiz durchaus nicht aus.
Nach
seinen Plänen
und Zielen müßte Busemann jetzt eigentlich Olympiasieger und
Weltrekordhalter mit 9000 Punkten plus
x sein. Dafür hat er gelebt, dem hat er alles untergeordnet seit
1996, mit diesen Zielen hat er sich selbst unter Druck gesetzt und
blockiert. In Sydney ist er Siebter geworden; immerhin, nach einer
Verletzung in der Vorbereitung. Den Weltrekord hat ihm Roman Sebrie
vorweggenommen, vor einem Jahr in Götzis. Busemann hatte eine
Urkunde über seinen dritten Platz bei den Westdeutschen
Meisterschaften im Stabhochsprung im Auto liegen, als er von seinem
geplatzten Lebenstraum hörte. Verletzungen, Panik wegen ebendieser
Verletzungen - man hat ihm all dies selten angemerkt, wenn er denn mal
einen Mehrkampf bestreiten durfte. Irgendwie hat er immer „einen
rausgehauen", wie er das nennt, und alle haben gestaunt: er, die
Konkurrenz, die Öffentlichkeit. Allerdings standen unter dem Strich
bedeutend weniger Punkte als früher; mit der absoluten Weltspitze
konnte er immer weniger mithalten.
Auch
2002 muß er
wieder um jeden Zehnkampf mit seinem Körper feilschen. Am kommenden
Wochenende wird er nicht nach Götzis, dem Mehrkampf-Mekka, pilgern.
Ratingen, der Versuch eines Gegenentwurfs, ist 14 Tage später
terminiert. Zwei Wochen, die er braucht, um möglichst gut zu sein und
sich für die Europameisterschaften in München zu qualifizieren. Ratingen
wird seinen 14. Zehnkampf und eine Premiere erleben. Frank Busemann
wird den Speer mit rechts werfen, auf ebender Anlage,
wo er sich vor Jahresfrist durch den unsinnigen zweiten Versuch einen
Totalschaden im Wurfarm zuzog. Mit der hübschen Wortschöpfung
„irroperabel" überspielt er die Tatsache, daß es damit für
ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine
internationalen Medaillen und Meriten mehr geben wird. Denn eher
gewinnt ein Rechtshänder einen Schönschreib- wettbewerb mit links,
als daß er, der totale Linkshänder, wettbewerbsfähige Weiten mit
rechts erzielt. Sein Hausrekord liegt bei über 66 Metern, im Training
liegt der Rekord bei 37 Metern.
Zur
EM nach München will
er aber auf jeden Fall. Wird er auch. Sagt er und strahlt dabei eine
Überzeugungs- kraft aus, daß man keinen Zweifel daran hat. Er wird
dabeisein. Am liebsten als Mehrkämpfer; wenn das nicht klappt, dann
eben als Weitspringer. Nach dem Wurf von Ratingen stemmte er ganz für
sich tonnenweise Eisen, im stillen Folterkämmerlein. Er beendete die
Saison 2001 als zweitbester deutscher Springer. Westfalen sind auch
flexibel. Aber nur, wenn es wirklich nicht anders geht.
©
Friedrich Bohnenkamp
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