Der Start ist
chaotisch. Die erste Reihe lehnt sich nach vorn. Der Richter gibt mit
dem Horn sein Signal, das wie eine Feuerwehrsirene durch die Marmor- und
Chromhallen donnert. Die Arme der Läufer fliegen auseinander, die Körper
neigen sich nach rechts, nach links, blockieren, suchen Halt, stoßen
sich ab. Dold und Jahn Schulter an Schulter, sofort in Führung. Nur noch
ein paar Meter bis zur offenen Stahltür. Gasperi stürzt! Die Zuschauer
stöhnen. Dold stürmt ins Treppenhaus, Jahn hinterher, Gasperi rappelt
sich auf, da ist der Eingang schon verstopft, und er muss anstehen.
Marco Gasperi, der größte Gegner, auch ein Mann aus dem Gebirge, aus den
italienischen Alpen. Den Treppenlauf in Taipeh hat er gewonnen. In New
York ist er zum ersten Mal, und das ist sein Schicksal. Thomas Dold, in
Taipeh Zweiter, und Matthias Jahn kennen sich hier aus: „New York hat
seine eigenen Regeln.“ Jetzt hat auch Gasperi gelernt. Am Ende, nach 86
Stockwerken Aufholjagd, auf Platz sieben, bleibt ihm immerhin der Trost:
„Nächstes Jahr laufe ich wieder. Dann sehen wir weiter.“
Das Müsli haben sie aus Deutschland mitgebracht
Ihr Trainingslager haben sie im Hotel Milford Plaza aufgeschlagen. Am
Abend vor dem Lauf sitzen Thomas Dold und Matthias Jahn in Zimmer 1659,
Blick auf den Hudson, wenn man denn hinausschaut und nicht in sein
Schinken-Sandwich beißt, wie Dold, oder am Laptop die Website
aktualisiert, wie Jahn. Im Fernsehen laufen die Simpsons. Auf den Betten
die Sportklamotten, auf dem Schrank die Müslipackungen für morgen früh,
aus Deutschland mitgebracht. Um halb zehn Uhr in der Früh werden sie mit
169 weiteren Männern und 64 Frauen im Erdgeschoss des Empire State
Building stehen, vor 86 Stockwerken, vor ihrem Anspruch, am schnellsten
die 1576 Stufen auf die Aussichtsplattform des höchsten Hochhauses in
New York hinter sich zu bringen. „Ob ich gewinne, hängt nicht von mir
ab“, meint Dold, „sondern ob die anderen besser oder schlechter drauf
sind.“ Da spricht er noch von Gasperi.
Eigentlich darf nichts schiefgehen beim Lauf aufs Dach der Neuen Welt.
Optimistischer als die beiden bekanntesten deutschen Treppenläufer, die
sich im Touristenhotel an der achten Avenue auf den Treppenlauf der
Läufe vorbereiten, sind an diesem Abend nicht einmal die Anhänger der
New York Giants, die am Tag zuvor den Super Bowl gewonnen haben, und
erst recht nicht die Anhänger der Präsidentschaftskandidaten, die dem
Super Tuesday entgegenzittern. Dold, leicht schwäbelnd, und Jahn, der
ein bisschen stiller ist, Zweiter eben, lachen und scherzen, als gingen
sie morgen nur zur Konfettiparade der Giants. Dabei gibt es wichtigeres
im Leben. Der „Empire State Building Run Up“ nämlich, vor dreißig Jahren
erfunden, ist – vor Wien und Taipeh – der bekannteste Treppenlauf der
Welt. Einmal, im Jahr 2005, war Dold Zweiter. 2006 und 2007 war er
Erster, Jahn brachte es erst auf den fünften, dann auf den zweiten
Platz. Warum nicht noch einmal genauso gut?
Mit Sondergenehmigung auf den Main Tower
„Wir sind hier erfahren, das gibt Sicherheit“, meint Matthias Jahn. „Als
ich das erste Mal hochgelaufen bin, habe ich oben eine Sekunde
angehalten wegen des Blicks – ich war so baff. Das passiert mir jetzt
nicht mehr.“ Monatelang haben sie sich vorbereitet. An den Wochenenden
fahren sie gemeinsam nach Frankfurt – der 24 Jahre alte Jahn aus
München, wo er arbeitet, der 23 Jahre alte Dold aus Stuttgart, wo er
Wirtschaftswissenschaften studiert. Mit Sondergenehmigung laufen sie die
1090 Treppenstufen des „Main Tower“ hinan. „Aber drei Mal“, sagt Jahn,
„weil es nicht so hoch ist.“ Wenn sich während des Trainings ein
Fachfremder ins Treppenhaus verirrt, hört er nur ein rhythmisches
Keuchen und das Surren des Geländers, an dem sich die Läufer hochziehen
und entlang hangeln. Man könnte die Vorbeihuschenden für Gespenster
halten.
Die Idee mit dem Treppenlauf kam ihnen 2002. Jahn stammt aus der Rhön,
Dold aus dem Schwarzwald – da will man nach oben. In der
Berglauf-Nationalmannschaft lernten sie sich kennen. Ein Trainer
erzählte ihnen, dass er nach dem Berglaufen mit dem Treppenlaufen
begonnen habe. „Der war dafür um die halbe Welt gefahren“, sagt Dold.
„Und ich dachte: Hallo?! Ich war 18 und kaum aus Deutschland
rausgekommen.“ Dold flog nach Wien, um mit guter Platzierung zum New
Yorker Rennen eingeladen zu werden. Flug, Hotel, 30 Dollar Startgebühr –
und er war dabei. Seitdem zählen sie an Hochhäusern von außen die
Stockwerke und gucken sich Treppenhäuser gern genauer von innen an. Sie
sind die einzigen deutschen Treppenläufer mit Homepage, sie betreiben
den Sport professionell und wenden ihr Studienfach Marketing im
wirklichen Sportlerleben an, wenn sie mit den Sponsoren verhandeln.
Auch im Rückwärtslaufen ist er gut
Und sie stiegen in einer Zeit auf, die seltsame Extremsportarten wie
Bungee-Jumping, Skydiving oder Fassadenkletterei liebt. Aber sie sind
keine „daredevils“, die das Schicksal herausfordern, sondern
Leichtathleten, die gern an ihre körperlichen Grenzen gehen. Und das
bitte möglichst originell: Thomas Dold hat auch mehrere Weltrekorde im
Rückwärtslaufen aufgestellt. Inzwischen erfasst der Sog der
Treppenhäuser ganz Deutschland. In Stuttgart, Berlin, Frankfurt, Hamburg
wollen die Menschen nach oben, sogar in Städten, die nicht gerade für
ihre Türme bekannt sind, in Kassel, Rostock, Wolfsburg. Die Szene auf
der ganzen Welt wächst wie die Hochhauslandschaft. Zum größten
Treppenlauf der Welt in Taipeh kommen 2500 Teilnehmer.
„Eine bessere Werbung für ein Hochhaus kann es kaum geben“, sagt James
Connors, der Geschäftsführer des 1931 eröffneten Empire State Building,
das nur zu Zeiten des World Trade Center das zweithöchste Gebäude New
Yorks war. Es ist Dienstag morgen, Super-Dienstag. Connor,
superkorrekter Händedruck, superverbindliches Lächeln, freut sich über
„das größte Marketingevent des Jahres für uns“. Um ihn herum Männer, die
am Ellenbogen den Arm an den Körper ziehen, Frauen, die auf dem Boden
liegen und mit den Händen die Beine anziehen, Senioren, die sich mit
kurzen Sprints warmlaufen. Christa Hartmann, 65 Jahre alt, aus Karlsruhe
stammend, die sich gerade fit macht, wird den Lauf immerhin in 23
Minuten und 40 Sekunden schaffen, schneller als viele Männer.
Noch streben nur ihre Haare nach oben
Thomas Dold und Matthias Jahn sind ein wenig gelaufen heute morgen um
kurz nach sechs, „wach werden“, haben ihr Müsli gegessen, im Zimmer
herumgehangen. Jetzt ziehen sie ihre Schuhe an, 155 Gramm, auch die
dürfen nicht viel wiegen. Sie sind nervös, gehen hin und her, blicken
ins Leere. Noch streben nur ihre Haare nach oben. Dold hört Dance-Musik
über Ohrenstöpsel, „Sympathy“ von „Silver“. Auf den Shirts die Aufdrucke
der Sponsoren. Markus Zahlbruckner aus Linz in Österreich, 39 Jahre,
Familie, selbständig, kann nicht so viel trainieren wie die beiden – und
wird trotzdem als Achter ins Ziel gehen. „Thomas Dold ist ein richtiger
Deutscher“, meint Zahlbruckner. „Er bereitet sich akribisch vor, und er
platzt vor Ehrgeiz.“
Kaum sind die Frauen gestartet, sind die beiden an der Startlinie. Fünf
Minuten nach den Frauen starten die besten Männer, wiederum fünf Minuten
später die anderen. Der Start läuft gut für die beiden, Thomas Dold
sieht das ganz wirtschaftstheoretisch: „Ist wie beim homo oeconomicus:
Jeder macht für sich das Beste, und das ist das Beste für alle.“ Der Weg
nach oben ist mühsam, die Treppe ist der steilste Berg. 30 Prozent
Steigung in den Bergen sind schon viel, bei Treppen sind es 45 Prozent.
Im Fluchttreppenhaus ist die Luft nicht wie im Gebirge, die Kehle ist
schon auf halber Strecke trocken. Die ersten 20 Stockwerke gehen ganz
gut, auf dem 20. wird das Treppenhaus gewechselt, dann wird es eintönig,
bis im 64. Stock wieder die Treppe gewechselt wird. Auf dem Weg nach
oben müssen die schnellsten Männer von den Dreißigern an viele Frauen
überholen. „Da ist dauernd was los“, hatte Dold gesagt. „In Taipeh
dagegen geht es immer nur eintönig nach oben, nur die Stockwerknummern
ändern sich – da ist mentale Stärke gefragt.“
Maßgeschneiderte Kompressionsstrümpfe
Dieses Mal ist alles wie immer. In den ersten Stockwerken sind viele nah
dran. Dann werden die Abstände größer, nur die beiden bleiben zusammen,
wie im Training in Frankfurt. Jetzt zahlt sich die Übung aus. Dold, mit
70 Kilogramm schwerer als Jahn, hat so dicke Waden vom Training, dass er
beim Lauf maßgeschneiderte Kompressionsstrümpfe trägt – normale passen
ihm nicht. Mit den kräftigen Armen ziehen sie sich am Geländer hoch, die
Hände haben davon Schwielen. Sie nehmen immer zwei Stufen, eine würde
zuviel Zeit, drei würden zuviel Kraft kosten. Und dann passiert es doch:
Jahn muss in den späten Zwanzigern Rickey Gates aus Boulder in Colorado
passieren lassen, der meist nur in den Bergen übt, weil er nicht immer
extra nach Denver fahren will. Und Dold glaubt in den Augenwinkeln auf
den letzten Stockwerken einen Verfolger zu erkennen und legt noch zu.
Und da kommen sie! Die Journalisten sind schon mal per Expressaufzug
vorausgefahren. Auf der Aussichtsplattform ist es neblig, windig, kalt.
Irgendwo da unten beginnt gleich die Konfettiparade, und auf dem Weg
nach unten wird der Fahrstuhlwächter sagen: „Und vergesst nicht zu
wählen!“ Da kommen sie! Erst Suzanne Walsham aus Singapur, die Beste der
Frauen, 12 Minuten 44 Sekunden, dann ein paar weitere Frauen, und dann,
nach 10 Minuten 8 Sekunden, Thomas Dold, mit Tunnelblick, läuft ins
Zielband, bricht zusammen, bleibt liegen, einer richtet schon die
Sauerstofflasche her, eine ruft „you’re o.k! you’re o.k.!“, Rickey Gates
hält seine Hand. Aber er kommt mühsam wieder auf die Beine, der dritte
Empire-State-Sieg in Folge. Jahn Dritter mit 10 Minuten 56. Etwas zu
trinken, Dutzende Interviews, Siegerehrung mit dem Empire State im
Miniformat. Ein paar Bilder noch mit Deutschlandflagge, dann rennen sie
über den Times Square zurück ins Hotel, bitte bis ein Uhr auschecken.
Vorher noch die Website aktualisieren, ein paar Anrufe nach Hause,
packen, zum Flughafen, ausnahmsweise mal kurz zu McDonald’s, ab nach
Hause. Das Leben läuft weiter.
copyright Text: F.A.Z. Alfons Kaiser
Links:
Thomas Dold website
Matthias Jahn
website
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