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Artikel von © Michael Fritzen, FAZ vom 05.06.03
Bitte copyright beachten, nur für privaten Gebrauch

Vom Glück des Joggens
Mutmaßungen über eine wunderbare Bewegungsart

Wer vor gut zwanzig Jahren joggend durch die Gegend zog, erntete regelmäßig mildes Kopfschütteln und belustigt-spöttische Rufe wie „Hopp-hopp", „Eins-zwei" oder „Tempo-Tempo". Ein Läufer wirkte komisch bis befremdlich - nur Kinder rennen. Heute gehören Jogger genauso zum Feld-, Wald- und Stadtbild wie Spaziergänger oder Einkaufsbummler, die stets mit einem Bein Bodenhaftung haben. Aber ein Rätsel sind sie wohl noch immer für jeden, der niemals ohne die einzig triftigen Gründe namens Flucht und Zeitnot zu traben beginnt. Was bringt denn eine sonst ganz normal aussehende Frau dazu, sich auf offener Straße mit schnellen Schritten leicht springend fortzubewegen, obwohl sie nicht verfolgt wird oder fürchten muß, anders ihren Zug zu verpassen? Warum verläßt der Mann in gehobener Stellung, den man eigentlich als seriösen Nachbarn kennengelernt hat, seit kurzem Morgen für Morgen ohne erkennbaren Zweck bei jedem Wetter fast hüpfend sein Haus, um dann vierzig Minuten später verschwitzt und mit einem Anfing debil-seligen Lächelns zurückzukehren? Er könnte doch gleich gebührlich zum Mercedes schreiten und zur Arbeit fahren. Aber nein, er joggt erst einmal. 

Heute verfallen Millionen und Abermillionen so oft es geht in jene fast fliegende Gangart, bei der immer wieder beide Füße in der Luft sind. Sie laufen und scheinen doch weder vor jemandem oder etwas zu flüchten noch zu fürchten, zu spät zu kommen. Warum aber dann? Sind sie große Kinder, laufen sie vor Lust und aus Lust? Oder schnellen auch sie nur deshalb, um dem oder jenem zu entkommen und dies und das zu bekommen? 

Läuft die bewegte Gattung etwa panisch ihrer Angst davon, manisch Gesundheit und Fitness entgegen? Wer Selbstläufer ist, mit Joggern spricht, das Internet konsultiert oder sich durch die manchmal etwas euphorischen, stets aber motivierenden Bücher von medizinischen und nichtmedizinischen „Laufpäpsten" gearbeitet hat, weiß, daß regelmäßiges Laufen, zumal das aerobe, das ent-spannt-schnauflose, höchst sinnvoll ist, oft gar als wahres Wundermittel gilt. Immer mehr Ärzte bestätigen die Nützlichkeit - wenn auch meist mit dem nötigen „Wenn und Aber". Kaum ein Körperteil, der nicht profitiert, kaum eine Krankheit, der nicht vorgebeugt oder gar abgeholfen wird. Die Hirndurchblutung steigt, das Gewicht fällt, Streß nimmt ab, Power zu. Herz, Lunge, Kreislauf, Stoffwechsel, Blutdruck, Cholesterinspiegel, Gelenke, Muskeln, Augen, Gewebe, Immunsystem erfahren wohltuende Wirkungen. Arthrose, Osteoporose, Diabetes, Rhythmusstörungen, Krampfadern, Migräne, Schlaflosigkeit, Verdauungsbeschwerden, Depressionen und manch anderes Übel soll man laufend bessern können. Abnehmende Belastbarkeit? Jog-ging! Zunehmende Entscheidungsschwäche? Jogging! Work-Life-Balance gestört? Jogging! Selbstmanagement geschwächt? Jogging! Burn-out-Syndrom? Jogging! Überfordert, lustlos, mißmutig, schlaflos, gereizt, matt, früh gealtert? Jogging! Leben Langläufer gar länger? Jedenfalls länger besser. Laufen scheint, zeitgemäß gesagt, ein „Must-be für Well-being" zu sein. 

Verheißungen ohne Ende - erfüllen sie sich? Überreich, sagen die einen. Nie im Leben, die anderen. Die einen sind meist selbst Läufer, die anderen meist nicht. Man muß es ausprobieren - just do it -, dann weiß man Bescheid. Man muß nicht Coachee werden, braucht keinen Personal Trainer, keinen Feedbackgeber, keine teuren Workshops und Seminare, keine Laufstilanalyse per Video, keinen Verein, kein Studio, keinen Sportplatz und keine Geräte, noch nicht einmal einen Walkman. Man muß keine komplizierte Technik erlernen, sondern lediglich üben, was man als Kind schon konnte. Laufen ist fundamental einfach, auch wenn es viel trendiges Drumherum gibt. Man braucht nur den Entschluß, das Placet des Arztes, gute Joggingschuhe und eine intelligente Anleitung, die vor Übertreibung schützt. Dann los, locker, leicht, maßvoll. Selbst chronische Couch potatoes werden sich bald gesünder fühlen.

Und doch erklären all die sanitären Versprechungen und Erfüllungen wohl nicht allein, warum so viele Menschen nicht nur zu laufen beginnen, sondern auch dabeibleiben. Ginge es nur um Therapie, würden viele Jogger wieder aufhören, sobald sich das Befinden gebessert hat. Sie setzten das Laufen ab wie eine Arznei, sobald sie geholfen hat. Da ist noch etwas anderes, und hier liegt des Rätsels Lösung, warum einer läuft und läuft, obwohl er weder fliehen oder Angst haben muß, etwas zu verpassen, sei es Gesundheit, sei es Leistungskraft. Oder? 

Es sei diese von Erfahrungen und Berichten gestützte Hypothese gewagt: Der Jogger läuft und läßt es nicht mehr, weil Laufen vor allem - er hat es schon nach den ersten Runden gespürt - Freude, Lust und Leben ist. Er genießt das Laufen als Laufen, so wie ein Kind, und er genießt, was er nur laufend erfährt: wie Mißmut verdunstet, Gedanken frei fliegen, Probleme sich lösen, Unscheinbares bezaubert, Alltägliches zur Sensation wird, wie die Welt in ihm und um ihn allmählich anhebt zu singen, zu leuchten, zu lachen, zu strömen. Das also ist des Joggens Kern. Oder?

Vom Glück des Laufens erzählt jeder anders, jeder erlebt sein eigenes Glück. Jeder Lauf ist eine Reise, ein Abenteuer, ein Film - wie man will. Kürzlich morgens etwa: Warmen Regen gekostet, glänzenden Asphalt so schön gefunden, jungen Roggen erstmals beachtet, das Gelb der Rapsfelder eingesogen, gute Idee gehabt, über kreuzende Wildschweinfamilie gelacht, reizende Erinnerung betrachtet, weichen Nadelboden im Fichtenwald genossen, Problem gelöst, staunend gesehen, wie der Hase läuft. Außerdem der naß-grün schimmernde Buchenhain, die phantasiebelebenden Hügelgräber, der allmählich wachsende Kirchturm, die fröhlich wogenden Walkerinnen, die außerordentliche Lust, seine Beine nicht mehr zu spüren, aufschießende Wellen von Wohlgefühl und schließlich das minutenlang mitfliegende Rotkehlchen, von Baum zu Baum, in niedriger Höhe, immer ein kleines Stück voraus. „Na, du", ruft der Jogger ihm unwillkürlich zu. Er ist ein bißchen high. 

Von Roggen bis Rotkehlchen: Beim Laufen gewinnt alles gesteigerte Intensität, jedenfalls war es so in diesem Film. Ist es in den Millionen anderen Laufreisen der Millionen anderen Läufer bei anderen Inhalten - vielleicht weniger romantisch-versponnen - ähnlich? Stimmen die Vermutungen? Ist Laufen Lebenskunst? Ja, wahrscheinlich. Nicht ohne Grund wächst das Heer der Jogger. Oder handelt es sich bei der Bewegung, schrecklicher Gedanke, doch um nichts als eine grassierende Fitness-Epidemie? Vielleicht kommt beim nächsten Lauf die endgültige Erleuchtung.

© Michael Fritzen, FAZ 05.06.03 

 

 

 
 
 

Laufen macht fröhlich ...
(Bruno B., 66,
beim Köln-Marathon 2002)

 

... in jedem Alter ...
(Schüler beim Start in 
Bochum-Laer, Ümminger See)

 

... und macht stark!
(Dunja R. demonstriert
Frauen-Power vor dem
Lauf um den Kemnader See
in Bochum)

 

 

(Fotos: Jörg Purat u. Uli Sauer)

 

Lauf-Infos auf der Link-Seite

 

 

 

 

 

 


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